Selbstverteidigung ohne Kompromisse
Ob handgreifliche Verehrer oder Straßenräuber: Israelisches Nahkampfsystem Krav Maga macht Frauen fit für den Ernstfall
(Artikel vom 11. Mai 2013 auf shz.de, von Kristina Röhrs)
Mit starrem Blick geht der Mann auf die Frau am Tresen zu, packt sie am Hals und drückt zu. Einen kurzen Augenblick guckt sie erschrocken, dann ein gezielter Griff, ein beherzter Tritt zwischen seine Beine und sie ist frei. Sie hätte wegrennen und sich in Sicherheit bringen können. Stattdessen dreht sie sich um und fragt: „Entschuldige, habe ich dir wehgetan?“. „Entschuldigt wird nach dem Training“, belehrt Tino Enders, der das Übungsszenario beobachtet hat. Als Cheftrainer und Leiter der Krav Maga Academy (KMA) Kellinghusen hauptberuflicher Polizeibeamter kennt er sich mit Selbstverteidigung aus.
Er unterrichtet nicht nur regelmäßig Profis in den Krav-Maga-Akademien in Kellinghusen, Hamburg und Hennstedt-Ulzburg, sondern bereitet in Kurzseminaren Frauen auf den Ernstfall vor. Aus gutem Grund: Frauen von heute seien zwar schlau und selbstbewusst – „sie sind aber das körperlich schwächere Geschlecht“. Der physischen Kraft eines Mannes haben sie aber meistens wenig entgegenzusetzen. Mit fatalen Folgen. Im Dezember 2012 wurde eine 23-jährige Medizinstudentin aus Neu Delhi/ Indien von mehreren Männern so brutal vergewaltigt, dass sie starb.
Auch in Deutschland werden Frauen regelmäßig Opfer von Gewalt. Neben der körperlichen Unterlegegenheit spiele dabei auch die Scheu vor Gewalt eine Rolle. Den meisten Frauen sei das jedoch nicht bewusst. „Im Ernstfall hätte ich keine Hemmungen zuzuhauen“, glauben viele. „Stimmt nicht“, sagt Tino Enders. „In unserer Kultur sind wir es nicht gewohnt, jemanden zu verletzen.“ Die meisten Frauen seien in Gefahrensituationen eingeschüchtert oder würden regelrecht „einfrieren“. Eine natürliche Reaktion des Körpers, wie Tino Enders weiß: „Das Gehirn funktioniert in Stresssituationen nicht richtig.“
Wie wehre ich mich gegen handgreifliche Verehrer oder verhalte mich bei einem kaltblütigen Straßenräuber? Diese Fragen gingen auch der Kreis-Gleichstellungsbeauftragten Tinka Frahm durch den Kopf. Im Rahmen der Aktion „Nein zu Gewalt an Frauen“ organisierte sie deshalb einen Selbstverteidigungskurs für junge Frauen und verpflichtete Tino Enders als Trainer. Zusammen mit seinen Teammitgliedern Simone und Christian zeigte er rund 20 Frauen erste Techniken des Krav Maga, einem Selbstverteidigungssystem aus Israel (siehe Infokasten). Die Gruppe war bunt gemischt – jung, alt, groß, klein, dick und dünn. „Das macht nichts. Krav Maga ist für jeden geeignet, weil es sich auf alltägliche Situationen bezieht“, erklärte Tino Enders den Teilnehmerinnen.
Ein weiterer Vorteil: „Die Techniken bauen auf den natürlichen Instinkten des Menschen auf und sind intuitiv unter Stress abrufbar.“ Krav Maga sei deshalb weder Kampfkunst noch Kampfsport. Es gibt keine Regeln. Ob ein Tritt in die Weichteile oder ein Faustschlag ins Gesicht – erlaubt ist, was Wirkung zeigt. Aber auch Zuschlagen will gelernt sein, denn man muss sich erst einmal trauen. „Auch wenn das nur eine Übung ist, verhalte dich so als wäre es real“, rät Enders. Denn nur dann könne man im Ernstfall die Techniken unter Stress automatisch abspulen. Um die Realität so gut wie möglich zu simulieren, durften die Teilnehmerinnen bei den Übungen mit voller Kraft zuschlagen. Was im Training für alle ein Highlight war, soll im Ernstfall die Hemmungen minimieren. „Die Aggressivität von Null auf 100 steigern, aber kontrolliert“, so Enders. Die Frauen nahmen Anlauf, traten auf Schutzpolster ein, befreiten sich aus Umklammerungen und schlugen sich Plastikmesser aus der Hand.
Doch bevor es um die Anwendung der richtigen Griffe und Tritte geht, steht zuerst das Einschätzen von Situationen auf dem Programm. Denn: Angriff ist nicht die beste Verteidigung: „Wenn die Möglichkeit besteht, ist Flucht oft die beste Option.“ Aber selbst dabei kann man einiges falsch machen. Auf sein Kommando liefen alle Teilnehmerinnen weg – viele in irgendeine Ecke des Kreistagssaals. Tino Enders korrigierte: „Nicht irgendwo hinlaufen, immer zum Ausgang flüchten!“ Das Unterbewusstsein soll schließlich mitlernen.
Beim Training gehe es nicht nur darum, verschiedene Techniken zu erlernen, wie Tino Enders betont. „Denn wenn der Kopf nicht funktioniert, funktioniert auch der Körper nicht. Dann bringen mir auch die besten Tricks nichts.“ Deshalb greifen beim Krav Maga vier Säulen ineinander. Physisch: Wie fühlt es sich an, Schläge auszuteilen oder einzukassieren? Technisch: Welche Technik ist am effizientesten, um sich aus der Situation zu befreien? Taktisch: Was ist die bessere Option? Sich wehren oder weglaufen? Mental: Kontrollierte Aggressivität aufbauen und die Hemmungen vor Gewalt verlieren. Zur Kampfmaschine mutiere man deshalb noch lange nicht. Denn wer Krav Maga beherrscht, werde eher seltener davon Gebrauch machen müssen. „Wer sich zu verteidigen weiß, tritt anders auf. Täter suchen sich aber oft leichte Opfer. “
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Infos unter www.krav-maga-academy.com